Wem gehört das Land? Jedediah Purdy fordert einen „die Welt erneuernden ökologischen Commonwealth“
In „Die Welt und wir – Politik im Anthropozän“ analysiert Jedediah Purdy das schwierige Verhältnis der US-Amerikaner zu ihrem Land und benennt Fehlentwicklungen. Einen Ausweg sieht er in der Rückbesinnung zum ursprünglichen Verständnis des Begriffs „Gemeinwohl“.
Als der berühmte amerikanische Schriftsteller und Transzendentalist Henry David Thoreau das Gefühl eines Verlustes spürte, fand er Trost in einer Seerose. Was war passiert? In seinem Essay „Slavery in Massachusetts“, geschrieben 1854, beklagt er sich über die Menschen, die so etwas Unmenschliches wie die Sklaverei zulassen. Thoreau spürt, dass er sein Land und das, wofür die Vereinigten Staaten stehen, durch das moralische Unrecht seiner Mitmenschen gewissermaßen verloren hat – die Sklaverei entspricht nicht den hehren demokratischen Ansprüchen der Vereinigten Staaten. Beim Anblick einer Seerose, kontempliert er, dass die Natur von der Sklaverei nichts wisse, rein und unschuldig sei. Sie hat mit dem Verhalten der Menschen nichts zu tun und bleibt unberührt, ihr Duft bietet die Möglichkeit einer höheren Moral und damit Trost.
Anders als heute. Der amerikanische Rechtswissenschaftler Jedediah Purdy greift nun in seinem Essay auf Thoreau zurück und versucht dessen Erfahrung in die heutige Zeit zu übertragen. Er muss dabei scheitern, wie er sich selbst eingesteht. Während die Seerose zur Zeit Thoreaus nichts vom Unrecht der Menschen wissen kann, so spürt heute jede Rose die Auswirkungen des menschlichen Handelns – über den von uns verursachten Klimawandel.
Der handelnde Mensch
Wir befinden uns im Zeitalter des Anthropozäns. Dieser Begriff, dessen Ursprung auf den kürzlich verstorbenen Atmosphärenforscher und Chemie-Nobelpreisträger Paul J. Crutzen zurückgeht, bezeichnet gewissermaßen das Zeitalter des Menschen. Es benennt den Menschen als den ultimativen Akteur auf der Erde, dessen Eingriffe so universal und schwerwiegend sind, dass die Natur sich diesem Einfluss nicht mehr entziehen kann und sich dadurch unweigerlich verändert. Eine neue erdgeschichtliche Epoche ist damit angebrochen.
Thoreau ist bekannt für seinen Essay „Walden“, wo er beschreibt, wie er sich in die Wälder Massachusetts zurückzog. Dort finden wir vor allem großartige philosophische Naturreflektionen, aber auch beißende Kritik an den vermeintlich zivilisatorischen Errungenschaften der Menschen. In einem weiteren seiner berühmten Essays, „Civil Disobedience“, wurde Thoreau, der sich eigentlich gerne von so weltlichen Dingen wie Politik fernhielt, ungewollt politisch, weil er sich moralisch verpflichtet sah, dem Unrecht des Staates Widerstand zu leisten. Auch hier ging es um die Sklaverei. Sein Essay über die Pflicht zu zivilem Ungehorsam inspirierte Widerstandskämpfer in aller Welt, auch Gandhi und Martin Luther King waren von ihm beeinflusst.
Purdy bewegt sich nun in der Tradition dieses hierzulande viel zu unbekannten amerikanischen Schriftstellers, geht aber das Problem größer und globaler an, indem er den Menschen im Anthropozän generell behandelt. Gleichzeitig wirft er einen präzisen Blick in die politische Landschaft der USA, spricht von dem schwierigen Verhältnis der Amerikaner zu ihrem Land, den Machenschaften der Energiekonzerne auf amerikanischem Boden und der Genese der amerikanischen Umweltbewegung. Schwierig sei das Verhältnis der Amerikaner zu ihrem Land gerade deshalb, weil die Gründung der USA auf der größten Landnahme in der Geschichte beruhen, sagt er. Ein unguter Start für die Nation, die sich hohe moralische Werte auf die Fahne geschrieben hatte. Vor allem der Umgang mit den amerikanischen Ureinwohnern kratzt am hehren Anspruch eines „Commonwealth“, von dem wir weiter denn je entfernt sind und den wir neu erfinden müssen. Der größte Landraub der Geschichte offenbarte nämlich ein eigenartiges Verständnis der Siedler von Eigentum und Besitzansprüchen, das sich bis zu den Landbesitzern von heute durchzieht. Der Raubbau an der amerikanischen Natur durch die große Kohle-, Öl- und Gasfirmen ist gewissermaßen das i-Tüpfelchen der Landnahme – kombiniert mit der verqueren Vorstellung davon, dass nur derjenige das Anrecht auf ein Land habe, der es auch bewirtschaftet.
„Das Land ist schon immer die Gemeinsamkeit gewesen, die uns voneinander trennt“, fasst es Purdy zusammen. Land als Eigentum verleiht Macht, teilt die Menschen in Landbesitzer und in diejenigen, die auf diesem Land leben. Dies, zusammen mit dem anderen großen Geburtsfehler der USA, dem Rassismus, der die Körper der Menschen bis heute in verschiedene Klassen teilt, ließ das wahre „Commonwealth“ verhindern. Mittlerweile haben sich diese Verhältnisse so sehr in das Land eingegraben, als wäre dies Teil einer natürlichen Ordnung.
Was tun?
Im Zeitalter des Anthropozäns müssen wir uns neu ausrichten, meint Purdy, und stellt die große Frage nach Heilung. In der Tat notwendig: Der Sturm auf das Kapitol kurz vor Bidens Amtsantritt war der vorläufige Höhepunkt einer Zerrissenheit und Spaltung, die kaum zu kitten ist. Purdy sieht eine Rettung in der Natur und neuen Narrativen. Das Narrativ von der Zugehörigkeit – wie bereits über die Nation oder der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Ort – bindet die Menschen und trennt sie. Genau wie die Natur: sie trennt und eint die Menschen. Das Narrativ darüber muss neu erfunden werden.
So weit ist das alles philosophisch schön, aber unpräzise und unbefriedigend, wenn man Auswege aus dem Schlamassel sucht. Konkreter, aber freilich auch ohne konkrete Lösungen, wird es, wenn Purdy die Dilemmata direkt ausspricht: Die Ausbeutung von Kohle und Gas, die ökologischen Krisen, die durch die Gewalt an der Natur entstehen sowie das von allen Seiten gebräuchliche Narrativ vom „Krieg“ („Krieg gegen die Kohle“) werden auf uns zurück fallen: „…weil die Welt, die wir geschaffen haben, zugleich genau das ist, was uns – in Form des Klimawandels, des Artensterbens, der Versauerung der Meere, der Degradation des Bodens – den Garaus machen könnte.“
Die Last der Welt
Schafft es Purdy im Laufe seines Essays noch, das Problem in konkrete Handlungsanleitungen zu formen? Interessant zunächst Purdys Ausführungen zur Anthroposphäre, dem gesamten materiellen Lebensraum, den wir geschaffen haben. Alles zusammen – Straßen, Gebäude, Städte – wiegt Schätzungen zufolge 30 Billionen Tonnen. Das „Gewicht der Welt“ nennt Purdy das, wir haben es erschaffen, indem wir die Welt gestalten, den Planeten verändern für unsere Zwecke. Doch gleichzeitig heißt das auch, dass die Welt uns vorschreibt, wie wir in ihr zu leben haben, indem wir die Infrastruktur nutzen und für die Befriedigung all unserer Bedürfnisse der Logik der Kapital- und Warenmärkte folgen müssen, was wiederum in die Gestaltung der Erde eingreift.
Es ist ein Dilemma ohne Ausweg, meint man, doch Purdy bietet etwas Hoffnung: Der Mensch bleibt immer noch ein zoon politikon, wie es Aristoteles genannt hat. Wir bestimmen die Form unseres Zusammenlebens, was auch bedeutet, dass wir etwas verändern können. Nur wie? Momentan sind keine politischen Institutionen in Sicht, die fähig wären, Entscheidungen zu treffen, die die Welt verändern können. Purdy: „Die „Menschheit“, an die die Wissenschaftler appellieren, schwebt bestenfalls als insubstantielle Masse über den politischen Entscheidungsebenen.“ Wir müssen also erst mal überhaupt ein „Wir“ werden.
Schwierig! Wir sind in einer Sackgasse, müssen umdrehen, aber können das gar nicht. Und da wird Purdy undeutlich und gerät ins diffus-utopische, fordert einen „Internationalismus“ für die globalen Probleme. Soweit waren und sind wir schon. Es mangelte ja auch nicht an internationalen Initiativen in den letzten Jahrzehnten.
Auch mangelt es nicht wirklich an scharfsinnigen Analysen über die globalen Krisen unserer Welt. Die Einführung des ursprünglich geologischen Begriffes des Anthropozän hat insgesamt Schwung in die Diskussion gebracht, allerdings scheint er bis auf einen kurzen Aufstieg in der Kunstwelt mehr im akademischen Diskurs gefangen, da allerdings auf sehr hohem Niveau, z.B. in den Schriften Bruno Latours. Andererseits wird in den verschiedensten Umwelt- und Klimabewegungen schon seit Jahrzehnten sehr praxisnah über den Raubbau an der Natur, die Gefahren des Klimawandels und die Grenzen des Wachstums diskutiert. Viele erfolgreiche Initiativen, gerade im Klima- und Umweltschutz, gehen auf die Anstrengungen der Zivilgesellschaft zurück und wären ohne sie nicht möglich gewesen.
This land is your land
„This Land was made for you and me“ sang Woodie Guthrie. Der politisch linksstehende Folksänger ist weit weg von der Siedler- und Landbesitzermentalität zu verorten. Trotzdem spricht aus dem Text ein patriotisches Element, weswegen es eine Art inoffizielle Nationalhymne der USA geworden ist. Dass sich die amerikanische Rechte den Song teilweise angeeignet hat, hätte Guthrie nicht gefallen. Das Lied ist eine Liebeserklärung an die großartige amerikanische Landschaft, an die Wüsten, Wälder, Weizenfelder und Highways. Diese Verbundenheit mit und Liebe zum Land sollte uns Richtschnur für unseren Umgang mit ihm sein.
Purdy, Jedediah: Die Welt und wir – Politik im Anthropozän. Suhrkamp, 2020.