Morteratsch darf nicht sterben

Morteratsch darf nicht sterben

Die Gletscher schmelzen. Ein Wissenschaftler will sie retten, aber um welchen Preis? Über das Ringen um den Umgang mit der Klimakatastrophe.

Die Erderwärmung trifft die Schweiz aufgrund ihrer geografischen Bedingungen überproportional. Während die Temperaturen in den letzten 150 Jahren im weltweiten Durchschnitt um 0,9 Grad angestiegen sind, sind es in der Schweiz fast 2 Grad.

Die Gletscher des Landes leiden unter der Wärme – schmelzen langsam, aber stetig. Der kühle, verregnete Sommer im letzten Jahr hat die Entwicklung nicht gestoppt, das Volumen nimmt jährlich um 1% ab. In den 12 Monaten vor September 2021 gingen rund 400 Millionen Tonnen Eis verloren, berechneten Mitarbeiter von GLAMOS, dem Schweizer Gletschermessnetz.

Felix Keller, Glaziologe an der Fachhochschule Academia Engadina in Samedan, ganz im Osten der Schweiz, will die Gletscherschmelze stoppen. Die Idee dazu kam ihm beim Angeln am Ova de Bernina, einem kleinen Fluss am Fuße des Morteratschgletschers.

Der 58-jährige Keller ist in Samedan aufgewachsen. Er kennt die Gletscherlandschaft um den Morteratsch wie kein anderer. Von der Gondelstation des Berges Diavolezza sieht man, wie der höher gelegene Nachbargletscher Pers eine Kurve dreht, bevor er in den großen Morteratsch mündet. Der wälzt sich von fast 4000 Meter hohen Bergen hinab. Immer wieder hört man das Eis krachen – der Gletscher ächzt unter der Sonne.

Idee

Dort, wo einst die Gletscherzunge des Morteratsch auf das Tal traf, liegt jetzt nur noch Geröll, eine graue Gesteinslandschaft. Dazwischen schlängelt sich das Schmelzwasser, wird zu einem kleinen Fluss, dem Ova de Bernina.

Keller verbringt hier gerne seine Zeit. Das Wasser rauscht durch den Lärchenwald, im Osten ragen die schneebedeckten Gipfel des Piz Palü und des Diavolezza in die Höhe.

Hier, erzählt Keller, kam ihm eine Idee zur Rettung des Gletschers, an einem schwülen Augustnachmittag im Hitzesommer von 2015. Obwohl den ganzen Sommer kaum Regen gefallen war, trug der Fluss Hochwasser. Die Hitze hatte das Gletschereis zum Schmelzen gebracht, das nun ins Tal rauschte.

Keller ist ein praktischer Mensch, ein Tüftler. Er will Teil der Lösung sein, nicht des Problems.

„Unsere Kinder werden uns nicht fragen, ob wir gesehen haben, wie die Gletscher verschwunden sind“, sagt Keller. „Sie werden fragen: Was habt ihr getan, um es zu verhindern?“

Er schaute auf das Hochwasser und dachte: Man müsste das Schmelzwasser des Gletschers recyclen, zu Schnee umwandeln und den Gletscher damit abdecken. Schnee ist der beste Sonnenschutz. Nur: Wie kommt das Schmelzwasser hinauf? Und wie verteilt man den Schnee?

Viele kleinere Gletscher sind bereits weg. Bis Ende des Jahrhunderts werden auch die großen Gletscher fast geschmolzen sein. Matthias Huss, Glaziologe an der ETH Zürich und Leiter von GLAMOS, hat wenig Hoffnung. Am Telefon sagt er: „Gletscher lokal zu retten, indem man sie etwa mit Tüchern bedeckt, ist eine wirksame Methode. Man müsse sich aber fragen, wofür“. Denn: „Selbst, wenn das Pariser Klimaabkommen vollständig umgesetzt wird, wird die Schweiz zwei Drittel ihrer Gletscherflächen verlieren“, sagt Huss. Für ihn ist vielmehr entscheidend, wie wir den CO2-Ausstoss begrenzen können: „Gelingt das, hilft das auch den Gletschern“.

Projekt

Keller stimmt Huss zu. Sein Kampf ist aber nicht politisch, er arbeitet praktisch, sozusagen direkt am Patienten – dem Morteratsch. Er kommt zu einer unkonventionellen Lösung: Beschneiungsseile. Quer über den Gletscher gespannt. Über die Seile könnte man den Morteratsch mit Schnee versorgen.

Auf dem großen Morteratsch lassen sich Schneekanonen nicht aufstellen. Der Untergrund ist in Bewegung, der Energieaufwand wäre hoch. Also Seile. Über in den Seilen eingebaute Düsen will Keller den Morteratsch über die Fläche von 1km2 mit Schnee zudecken. Der Schnee soll aus Schmelzwasser des höher gelegenen Persgletschers gewonnen werden.

Die Seile, gibt Keller zu, wären ein massiver Landschaftseingriff. Nicht schön für das Auge, außerdem teuer: Auf fast 150 Millionen Euro schätzt er die Kosten. Viel Geld, auch für die Schweiz. Damit könnte man den Rückgang des Morteratsch bremsen, aber lohnt sich das wirklich?

Kritik

Matthias Huss sieht die Idee seines Kollegen kritisch. Gletscher lokal abzudecken, um einen konkreten wirtschaftlichen Nutzen zu erzielen, etwa für Skipisten, findet Huss sinnvoll. Einen ganzen Gletscher zu retten, hingegen nicht. Die Kosten sind hoch, der Eingriff in die Natur stark. „Das Geld für CO2-Kompensation auszugeben, wäre sinnvoller“ sagt er.

Keller versucht unterdessen, in Samedan Fakten zu schaffen. In kleinem Stil will er seine Idee am nahe gelegenen Piz Corveratsch ausprobieren, Kosten knapp 4 Millionen Euro.

Keller und Huss mögen verschiedener Meinung sein, das Ziel ist das gleiche: Die Gletscher retten. Die Kritik von Huss frustriert Keller, vor allem, wenn sie über die Medien geäussert wird.

Aber er sagt auch, dass Huss recht hat. Die Schweiz ist nicht auf die Gletscher angewiesen. Im Himalaya ist das anders, hier sind Menschen vom Schmelzwasser abhängig. Keller sagt, er will sein System in der Schweiz nur testen, um es dann dort anzuwenden, wo es wirklich benötigt wird.

Huss findet auch das falsch: Im Himalaya sind die Bedingungen extremer. Die Höhe macht Installation und Wartung schwierig.

Kellers Projekt ist teuer, die Methode umstritten, der Erfolg fraglich. Aber: Brauchen wir angesichts der Klimakrise nicht innovative Ideen?

Das Geld für den Testlauf am Corveratsch hat Keller bekommen. Für den Morteratsch gibt es noch Hoffnung.

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